Persönlicher Erfahrungsbericht über Michael (*1996; implantiert im Juni 2002)

erstellt von Melanie Rückert im August 2003

 

Mit 41 schon in den Wechseljahren? Ich hab's fest geglaubt, musste jedoch nach 5 Monaten sprachlos akzeptieren, dass nicht alles im Leben planbar ist. Auf eine übergroße Leinwand geworfen, zeigte sich das Ultraschallbild eines kleinen und zufriedenen Daumenlutschers. Michael, das Überraschungskind, wurde im September 1996 geboren. Sein Vater, bei Michaels Geburt 48, und ich sind hörend.
Bald war uns klar, dass auch Michael, ebenso wie sein fast 8 Jahre älterer Bruder Daniel, hochgradig schwerhörig war. Die BERA zeigte nur Antworten im Tieftonbereich und mit 4 Monaten wurde Michael bereits mit Hörgeräten versorgt. Mit der Einstellung "...Wir kriegen das schon hin, das mit dem Sprechen lernen hat bei seinem Bruder auch geklappt...", mit viel Optimismus und dem entsprechenden Engagement versuchte ich die Trauer in mir zu überwinden.
 

Michael entwickelte sich geistig und körperlich von Anfang an prima, und es zeigte sich bald, dass er ein sehr wissensdurstiger, aufgeweckter Junge ist, der sehr viel Eigeninitiative zeigt. 

Michael, der uns täglich neue Überraschungen bietet, ist für mich und meine Familie zu einer großen Bereicherung geworden.


Mit Michael auf einem Piratenschiff, 2000

Trotzdem waren für mich die ersten 5 Jahre nach Michaels Geburt ein auf und ab der Gefühle. Verzweiflung, Trauer, Mutlosigkeit und wieder Hoffnung wechselten sich ab. Trotz "erfreulicher" Hörkurven, die sich im Laufe der Zeit von 80 bis 100 dB sogar auf 60 bis 80 dB "verbesserten", ging Michaels Hör- und Sprachentwicklung zäh voran. Von Anfang an mit lautsprachbegleitender Gebärde und Mundbild unterstützt, blieben die Erfolge, wie wir sie bei seinem Bruder gewöhnt waren (70 bis 90 dB) aus. Bis zu Michaels 3. Lebensjahr wechselten wir mehrmals die Hörgeräte bis hin zu einem Powerhörgerät. Jetzt hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass Michael auf Ansprache reagierte. Doch es blieb nicht lange bei diesem Powersound, denn bei dieser tollen Hörkurve wurde Michael eindeutig "überbeschallt" und die Hörgeräte mussten wieder heruntergedreht werden. Meine Bedenken, dass diese Hörkurve einfach viel zu gut war und nicht sein kann, im Vergleich zu Michaels Reaktionen, wurden leider nicht ernst genommen. Nun machte Michael gar keine Fortschritte mehr und meine Frage an einen Experten, ob Cochlear-Implantate auch bei diesen niedrigen Hörkurven implantiert werden, wurde natürlich eindeutig verneint.
Unser Erziehungziel war von Anfang an die Lautsprache. Michael sollte die Lautsprache sprechen lernen. Seit seinem 2. Geburtstag ging Michael noch zu einer Logopädin, die ähnlich wie die Frühförderung arbeitete. Zu Hause achteten wir darauf einfache Satzstrukturen zu verwenden und Michael wurde aufgefordert immer auf die Lippen zu schauen.

 


Mit Michael beim Skifahren, 2001

So sprach Michael mit 5 Jahren einfache Sätze, gab Antworten auf einfache Fragen, war jedoch immer auf das Mundbild angewiesen. Man verstand ihn schlecht, für familienfremde Personen musste ich immer die Übersetzerin spielen. Auf Zuruf reagierte er selten. Jedes Familienmitglied sprach mit Michael sehr viel lauter als normal. Dies war für alle sehr anstrengend. Es gab immer wieder Missverständnisse und es war äußerst schwierig Michaels Mitteilungen auch inhaltlich zu verstehen. Michael wollte zunehmend von der sprachlichen Kommunikation mehr mitbekommen. Wir versuchten ihm schwierige Sachverhalte mit einfachen Worten und Gebärden zu erklären. Michaels Wissensdurst und Intelligenz konnte dies jedoch alles nicht gerecht werden. Wir merkten, dass er sich manchmal ganz in seine innere Welt zurückzog. Meine Gebärdensprache, geeignet für die Kleinkind-Erziehung, hinkte eindeutig hinterher.
Meine Verzweiflung konnte größer nicht sein. War es ein Ausweg mich nun voll und ganz auf die Gebärdensprache einzulassen? Doch wie sollte ich dies, zusätzlich zu der sowieso schon recht umfassenden Betreuung von Michael, bewältigen? Rein zeitlich war ich nicht nur mit den ständigen Terminen beim HNO-Arzt, Akustiker, Logopädin und der notwendigen Hausaufgabenbetreuung unseres Großen absolut ausgereizt sondern nahm mich auch mein Beruf voll in Anspruch. Auch mein Mann war voll ausgelastet. Durch konsequente Arbeitsteilung bewältigten wir dieses ganze Pensum. Sollte ich nun meinen Beruf aufgeben? Oder er seinen? Sollten wir unsere gewachsenen alten Freundschaften, für die sowieso nur sehr wenig Zeit blieb, aufgeben, und uns ein völlig neues soziales Umfeld mit Schwerpunkt Gehörlosenkultur schaffen? Nein, ich hielt dies für unmöglich und wollte eigentlich auch nicht unsere familiären Strukturen ändern. Außerdem sah ich ein, dass die Gebärdensprache nie meine Muttersprache sein würde, ich würde sie auch bei allergrößter Mühe und Engagement weniger beherrschen als mein Schulenglisch und dieses Provisorium sollte ich dann Michael beibringen?

Michael war über 5 Jahre alt, als wir uns entschlossen, noch einmal eine BERA-Untersuchung zur genauen Feststellung der Hörkurve zu machen. Doch schon der Hörtest in einer Klinik genügte um festzustellen, dass Michael bei einer Hörkurve um die 90 bis 110 dB nie ins freie Sprachverstehen kommen kann. Heute nehme ich einfach an, dass Michael seine anderen guten Hörkurven gefühlt hat und wir von seinen Hörreaktionen einfach getäuscht wurden. Ich kann es mir nicht anders erklären.


Michael als König, Dezember 2002

Ganz klar hieß es von Seiten der Klinik, Michael sei ein "...Kandidat fürs Cochlear-Implant,..." und "...Mit dieser Hörkurve kann er gar nicht ins freie Sprachverstehen kommen..." Dieser eine deutliche Satz hat uns die ganzen Jahre über von Seiten der Beratungsstelle gefehlt. Wir waren einfach nicht fähig, dies selbst vorher zu erkennen. Nicht, dass wir über diese neue Einschätzung begeistert gewesen wären, aber unser Verstand fing sofort an zu arbeiten. Mein Mann war total gegen diese Frankensteintechnik, "...nie im Leben lass ich das mit meinem Kind machen!..." "...Punkt! Basta!..." - Verständlich, diese ersten Reaktionen, basierend auf Vorurteilen und Fehlinformationen.
Die entscheidungsschwierigsten Wochen und Monate unseres Lebens und unserer 27-jährigen Partnerschaft begannen. Konflikterprobt standen wir Schlaflosigkeit, Alpträume, Zweifel und Auseinandersetzungen in dieser Zeit durch. Nur mit Hilfe des Internets und sehr, sehr vieler hilfsbereiter Betroffener konnten wir uns innerhalb von 8 bis 10 Wochen ein umfassendes Wissen über diese Frankensteintechnik aneignen, Erfahrungsberichte lesen, Workshops besuchen, mit Betroffenen austauschen, um dann mit bestem Wissen und Gewissen zu einer, von beiden Elternteilen gemeinsam getragenen Entscheidung zu kommen.


Mit meinen zwei Jungs, Weihnachten 2002


Michael bekam 2 CI's, er wurde Mitte Mai 2002, mit 5 Jahren und 9 Monaten, in Hannover implantiert. 4 Stunden nachdem Michael aus der Narkose erwacht war ging er alleine zur Toilette, spielte wieder Gameboy und wollte Gummibärchen haben. Die OP ließ ihn unbeeindruckt, er nahm das alles als selbstverständlich hin. 

Alle Ängste, die wir vorher hinsichtlich der OP hatten waren gänzlich unbegründet.

Genau 1 Woche nach der Erstanpassung kam Michael voller Begeisterung aus dem Garten ins Wohnzimmer gerannt und schrie ganz laut: "Mama, Mama, ich kann die Vögel hören, ich kann die Vögel hören!" Er freute sich, wie nur ein Kind sich freuen kann, und uns Eltern liefen vor Freude nur so die Tränen herunter.

Und schon 4 Wochen nach der Erstanpassung konnte ich Michael einfache Bücher vorlesen, er verstand die Geschichte auch ohne Gebärden! Unser ganzes Familienleben hatte sich sofort entspannt; keiner musste mehr besonders laut sprechen oder auf sein Lippenbild achten, es gab sofort viel weniger Konflikte und Missverständnisse.
Kompetent beraten und unterstützt von den Therapeuten des CIC Hannover, bemühen wir uns weiterhin mit Michael auf seinem Niveau zu kommunizieren. Und immer dann, wenn er eine neue Sprachebene erreicht hat, ziehen wir mit. 

Heute
hat Michael schon sehr viel aufgeholt an Wortschatz und Grammatik. Er hat eine klare Aussprache und jeder kann ihn verstehen. Er drückt sich immer differenzierter aus und kann schwierige Sachverhalte schildern, auch wenn er sich dabei manchmal noch überschlägt.  


August 2003

 

Papa kann ihm Fantasiegeschichten erzählen und er bekommt, inzwischen so ganz nebenbei, Gespräche mit und mischt sich ganz selbstverständlich in die geführten Unterhaltungen mit ein. Er ist nicht mehr ausgeschlossen. Er schnappt Redewendungen und neue Wörter von ganz alleine auf. Ja selbst im fahrenden Auto sind wir überrascht, wie Michael fast jedes Wort versteht! Kein Wunder oder doch ein Wunder? -, er hört ja jetzt bei 25 dB bis 10000 kH. 

Michael wird jetzt, im Herbst 2003, in einer offenen Klasse mit normalhörenden Kindern eingeschult. Wir sind sicher, dass er auch davon noch sehr profitieren wird.

Über 1 Jahr ist vergangen seit der Erstanpassung. Für mich persönlich begann mit der Implantation ein neues Leben, ein Leben mit viel mehr Zeit und weniger Sorgen, viel unbeschwerter als jemals zuvor, ein Leben, an dem für mich jeden Tag die Sonne scheint und immer wieder kleine Wunder geschehen. Unendlich dankbar bin ich den Wegbereitern und Förderern des CI. Und Michael? Der sprüht nur so vor lauter Energie und nimmt das Leben mit allen Sinnen wahr! Und mein Mann? Der ist jeden Tag froh darüber, die richtige Entscheidung getroffen zu haben und dankbar, dass ich ihn dahin geschubbst habe. Und Daniel? Der ist nicht nur stolz auf seinen Bruder Michael, dass er sich mit ihm schon so toll unterhalten kann, sondern auch stolz auf die ganze Familie, dass wir das alles so geschafft haben. 

   

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